Seliger Gemeinde

Die BRÜCKE - unsere Mitglieder- information

Zur aktuellen Ausgabe!

Zum Brücke-Archiv!

Präsidium / Vorstand / Jury

Die am 14. Oktober 2023 gewählte Vorstandschaft finden Sie hier!

Die Jury zur Vergabe des Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreises finden Sie hier!

Frühjahrsseminar 2024

Veröffentlicht am 18.04.2024 in Allgemein

Eike Stiller bei seinem Vortrag

 

Fußball-EM 2024 in Deutschland – aus der Geschichte der Arbeiterfußballbewegung

In diesem Jahr gastiert die Fußball-Europameisterschaft nach vielen Jahrzehnten mal wieder in Deutschland. Die Seliger-Gemeinde nahm dies zum Anlass, beim Frühjahrsseminar einmal einen Fußballvortrag anzubieten. Hierbei sollen weder Ergebnisse noch Taktik im Vordergrund stehen. Der Bielefelder Sporthistoriker und Sprecher des Paderborner Kreises, Dr. Eike Stiller, stellte vielmehr das Phänomen des Arbeiterfußballs vor. Diese heute nahezu vergessene Form des Fußballs hatte einmal Millionen Spieler in Deutschland. Heute steht der historische Arbeiterfußball sinnbildlich dafür, dass all die Missstände im heutigen Sport nicht alternativlos sind. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es auch in der sudetendeutschen Arbeiterbewegung eine starke Fußballbewegung gegeben hat - diesen Aspekt wird die Seliger-Gemeinde im Rahmen der seliger-online-Reihe und beim Sudetendeutschen Tag aufgreifen.

Vorlage für den Vortrag von Eike Stiller ist die Ausstellung „Der andere Fußball – 100 Jahre Arbeiterfußball – 125 Jahre Arbeitersport“, in der der Paderborner Kreis – Arbeiterfußball e.V. 2018 erstmals den Versuch unternommen hat, den mehr als 125.000 Fußballern des Arbeitersports wieder Gestalt und Gesicht zu geben. Entlang des Vortrags wurden Wesen, Werte und Ziele des Arbeiterfußballs dargestellt, das Ende des Arbeitersports 1933, Verfolgung durch und Widerstand gegen den NS-Faschismus thematisiert. Der Referent Dr. Eike Stiller lebt in Bielefeld und leitet eine Gemeinschaftsschule in Kalletal. Er ist seit Jahrzehnten engagiert in Forschungsprojekten und Veröffentlichungen zur Geschichte der Arbeitersport- und Arbeiterfußballbewegung. Stiller ist einer der Kuratoren der Ausstellung. In seinem Vortrag legte er den Schwerpunkt darauf, wie sich die Arbeitersportbewegung den neu entstandenen Fußballsport »anders« aneignete und zieht Bezüge zum heutigen Fußball.

Wenn der Deutsche Fußball-Bund heute zu Respekt oder Fairness aufruft, dann entgegnet der Bielefelder Sporthistoriker Dr. Eike Stiller: „Klasse, dass ihr‘s macht, aber vergesst doch bitte nicht, dass 1920/22 all diese Ideen schon mal formuliert waren und Menschen mit genau diesem Anspruch versucht haben, ihren Sport zu betreiben und gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit vorzugehen und auf ehemalige Feinde zuzugehen. Da gibt es lange Traditionen, auf die wir verweisen können – lasst uns diese einfach nutzen.“

Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hat eine lange Tradition

Das alles versuchten schon die Arbeiterfußballer zwischen 1918 und 1933 zu verwirklichen. Während der national-konservative DFB mit rauem Spiel eher Wehrertüchtigung betrieb als Fairplay, setzten die im Arbeiter-Turn-und-Sportbund organisierten sozialistischen und kommunistischen Fußballer auf Brüderlichkeit und Solidarität, Friedenserziehung und Völkerverständigung. Sie pflegten ein körperloses, schnelles und offensives Spiel, ohne knallhartes Tackling oder Wegrempeln des Gegners. Eigene Regeln, wie das Verbot von Torwartattacken, sollten die Gesundheit der Spieler schützen. Und auch bei Regelfragen hätten die Arbeiter eine Art Vorreiterrolle eingenommen. Schon in den 1920er Jahren habe es bei ATSB-Partien eine Art Torrichter gegeben, der beruhigend auf das Spiel einwirkte und kontrollierte, ob ein Ball die Torlinie vollständig überschritten hatte. »Der europäische Fußballverband hat dafür bis 2009 gebraucht«, scherzt Stiller. Während es in den Vereinen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gerade bei Torhütern immer wieder schwere Kopfverletzungen gegeben habe, galt unter den Arbeitern das Gebot der Rücksichtnahme. »Der Gegner war ja häufig ein Kollege, mit dem es am nächsten Tag schon wieder runter in den Schacht ging«, erklärt Stiller.

„Das hat etwas damit zu tun“, so Eike Stiller, „dass die Arbeiterfußballer den Anspruch hatten, die Gesundheit ihres Gegenspielers grundsätzlich zu respektieren, weil letztendlich darin auch immer der Klassengenosse und Kollege erkannt wird, der eine Familie zu Hause hat und seinen Körper braucht, um damit Geld zu verdienen. Das sind halt Amateure.“ Und die pachteten ihren Sportplatz und richteten ihn in Eigenarbeit für den Spielbetrieb her.

Geschichten der Arbeiterfußballer ist in Vergessenheit geraten

Mit der Industrialisierung entstand auch eine eigene Sportkultur der Arbeiterschaft.  Seit seiner Gründung 1893 gehörte der Arbeiter-Turn und Sportbund (ATSB) zu den größten Sportverbänden Deutschlands. Rund 1,5 Millionen Mitglieder, darunter mehr als 125.000 Fußballer, etablierten vor allem seit den Jahren 1918/19 ein überaus buntes und aktives Sportleben. Die 100-jährigen Traditionen und Geschichten der Arbeiterfußballer sind seitdem vielfach in Vergessenheit geraten.

Zur Klasse der Arbeitervereine hätten S04 und BVB zu keinem Zeitpunkt gehört. »Das waren durch und durch bürgerliche Klubs«, erklärt Stiller. Dementsprechend groß seien die Unterschiede zu dem gewesen, was man vor 100 Jahren noch unter Arbeiterfußball verstand. Schon die Spielweise hatte mit Kampf wenig zu tun. »Es wurde offensiv und attraktiv gespielt.« "Die Arbeitersportbewegung trug völlig unabhänig von bürgerlichen Verbänden eigene Wettbewerbe, Meisterschaften und Länderspiele aus. Man verstand sich als Gegenmodell zum bürgerlichen Sport, indem gegen Konkurrenz und Nationalismus, gegen den Personenkult des DFB-Fußballs die Entwicklung von Solidarität und Internationalismus gesetzt wurden", wusste Stiller zu berichten.

Die spielerische Klasse der Arbeiter-Fußballer blieb auch den im DFB organisierten bürgerlichen Vereinen nicht verborgen. So wurden Ausnahmekönner wie Erwin Seeler, Vater von Uwe Seeler und Alfons Beckenbauer, Onkel von Franz Beckenbauer, mit ​der Zeit abgeworben und ließen den Fußball des Proletariats hinter sich.

DFB-Vereine hatten allerdings von Anfang an versucht, gute Arbeiterfußballer abzuwerben. Mit attraktiven Arbeitsstellen oder besseren Wohnungen lockten sie die verarmten Proletarier ins bürgerliche Lager. 1932 wechselte auch der prominente Hamburger Torjäger Erwin Seeler, Vater von Uwe Seeler, vom Arbeiter-Club Lorbeer 06 zur bürgerlichen Victoria 1893.

Hand in Hand im dem Kriegsfeind auf das Spielfeld

Schon ab 1920 spielten die Arbeiterfußballer eigene Bundesmeisterschaften aus, und 1924 reiste eine Auswahl nach Paris und reichte den Franzosen versöhnlich die Hand. Es war der erste offizielle Sportaustausch mit dem Erzfeind Frankreich nach dem ersten Weltkrieg, erklärt Eike Stiller: „Sechs Jahre nach dem ersten Weltkrieg in Paris – das war sicherlich kein einfacher Weg und sie haben dort einen sehr herzlichen und freundlichen Empfang erlebt. Zu einer solchen Geste war der DFB halt erst Anfang der 1930er Jahre fähig.“

»Kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges ist die Nationalmannschaft der Arbeiter Hand in Hand mit den Engländern, also dem Kriegsfeind, ins Stadion eingelaufen«, hat Stiller rekonstruiert.

1932 organisierte die Sozialistische Arbeitersport-Internationale die erste Fußball-Europameisterschaft. 15 Mannschaften nahmen teil. Die deutsche Auswahl konnte nur ein Spiel machen. Die Nazis zerschlugen nach der Machtübernahme 1933 alle konfessionellen und politischen Sportverbände. Da zählte der Arbeiter-Turn-und Sportbund eine Dreiviertel Million Mitglieder. Den nationalsozialistischen Machthabern hatte der DFB 1933 ein deutliches Signal gegeben, als er öffentlich erklärte: „Wir haben mit den ganzen Sozialdemokraten und Kommunisten nichts zu tun und wir sorgen auch dafür, dass weder Juden noch Arbeiter-, ehemalige Arbeitersportler bei uns im Verband offiziell Mitglied werden.“ Der Deutsche Fußball-Bund konnte gleichgeschaltet weiter bestehen und war nach 1945 alleiniger Verband im bundesdeutschen Fußball.

Mit dem Verbot durch die Nationalsozialisten 1933 endete dieser Zweig deutscher Sportgeschichte abrupt. Dennoch beziehen sich noch heute viele hundert DFB-Vereine in ihrer Tradition auf den Arbeiterfußball, da sie 1933 Arbeitersportler*innen aufnahmen oder sich nach 1945 neu gründeten. Nach Gründung der Bundesrepublik schlossen sich die vorwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeitersportler den millieuübergreifenden Sportverbänden wie dem DFB an.

Die 100-jährigen Traditionen und Geschichten der Arbeiterfußballer sind in Vergessenheit geraten. Die Namen der Spieler kaum bekannt.  Der Arbeiterfußball ist ein wichtiges Stück Erinnerungskultur, eine „spannende Nische“, ermuntert Eike Stiller die Zuhörer, sich mehr mit diesem Thema zu beschäftigen.

Alexanders- bader Forum

Forum Bad Alexandersbaddie Seliger Gemeinde ging 2018 mit einem neuen Diskussionsformat an den Start

Das Alexandersbader Forum befasst sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen im deutsch-tschechischen Dialog.

mehr dazu hier!

Lorem ipsum

Da immer größeres Interesse deutscher und tschechischer Leserinnen und Leser für diese Publikationen erkennbar ist, erweitert die Seliger-Gemeinde ihr Portfolio um das Format „Lorem ipsum“, das die Lust auf deutsch-tschechische Literatur aufgreift und unterstützen will.

Mehr dazu hier!